Im neuen Modus

09.10.2018 - verfasst von Stephie

Während der ersten kasachischen Etappen auf unseren kürzlich erstandenen Drahteseln bekommen wir bereits einen Querschnitt an alltäglichen Eindrücken von Radreisenden. Die Straßen sind zunächst weitestgehend dankbar, nur wenig befahren und überwiegend asphaltiert, große Steigungen bleiben uns anfangs erspart. Nach Überschreiten der kirgisischen Grenze wird allerdings schnell deutlich, dass das in diesem neuen, für uns vorerst letzten zentralasiatischen Land nicht die Regel sein wird. Auf einer so genannten Waschbrettstraße kommen uns zwei Radreisende entgegen, welche bald ihr Kirgistan-Kapitel abschließen werden. In Kürze würde ein 30 Kilometer langer asphaltierter Abschnitt beginnen. Solch eine gute Straße hätten sie im ganzen Land zuvor nicht gesehen, das sollten wir genießen, denn gewöhnen könnten wir uns eher an den momentanen Untergrund. Beim Waschbretteffekt, auch Wellblechpiste genannt, ist der Name Programm. Die quer zur Fahrtrichtung liegenden Bodenwellen sind insbesondere mit dem Fahrrad nur sehr mühsam zu überwinden. Mit schwerem und schnellerem Gefährt spürt man die unzähligen kleinen Hubbel nicht so sehr, wir hingegen werden ordentlich durchgeschüttelt. Unser einziger Vorteil besteht lediglich darin, die gröbsten Problemzonen auf schmalen Spuren umfahren zu können. So gestalten sich die Fahrten auf einer Wellblechpiste als Slalom-Fahrt, auf der ständigen Suche nach einer guten Fahrbahn. „Wie ist es bei dir?“, frage ich Simon. „Besser, glaube ich…“. Also wechsle ich über die gemeine Mitte zur anderen Straßenseite. Es fühlt sich nicht richtig an, die Fahrräder gleich zu Beginn dieser Feuertaufe zu unterziehen. So hoffe ich zähneknirschend, dass alle Teile beisammen bleiben werden. 

Wellblechpiste um den Song-Kul-See
Wellblechpiste um den Song-Kul-See

Noch kennen wir unsere neuen Begleiter nicht so gut, wissen nicht, was wir ihnen zumuten können, doch mit nur einem Platten als einzigen Zwischenfall, sind wir nach der ersten Woche durchaus zufrieden. Dennoch gestaltet sich die Zeit im Hostel in Karakol als kleine Tüftelphase. Der Schlauch muss geflickt und sämtliche Schrauben angezogen werden (so mancher Langzeitradler tut letzteres angeblich jeden Tag). Obendrein bricht bei unserer Ankunft eine Zeltstange und zu allem Übel hatte erst vorgestern unser Gaskocher den Geist aufgegeben, sodass wir uns nach einem langen anstrengenden Tag abends mit Keksen und einer Tafel Schokolade statt mit einer warmen Mahlzeit hatten begnügen müssen. Nun gut, wir arbeiten eine Baustelle nach der anderen ab und finden anschließend auch noch Muse für ein weiteres Projekt. Bei unserem Start in Kasachstan hatte Simon jeweils zwei Wasserkanister als Fronttaschenersatz an die Fahrradgabeln montiert, doch scheiterte diese Konstruktion leider bereits nach wenigen hundert Metern. Auf einer Wanderung treffen wir nun zufälligerweise auf zwei Radler mit einer wirklich kreativen Lösung. Die beiden haben Blecheimer in zwei Hälften gesägt und diese mit Hilfe von Rohrschellen fixiert. Mit dieser Montage könnten wir in Zukunft das Gewicht und Volumen der Isomatten und Schlafsäcke nach vorne verteilen. Gesagt, getan. Die Aktion entpuppt sich als nettes Projekt, welches insbesondere auf dem Markt, wo wir alle Besorgungen erledigen, für große Verwunderung sorgt. Amüsiert und zielstrebig verfolgen wir unser Vorhaben. Die Eimer lassen wir uns kurzerhand auf einer Baustelle zersägen. Das Resultat kann sich unserer Einschätzung nach sehen lassen, doch entweder wollen die anderen Hostelgäste unseren Enthusiasmus nicht trüben oder sie unterschätzen genauso wie wir die Macht der kirgisischen Holperstraßen. Keine 300 Kilometer weiter findet auch diese Konstruktion ein Ende. 

Es ist schon komisch, wie sich unser Fokus auf der Reise gewandelt hat. Die Straßen sind nach wie vor ein zentrales Thema, allerdings aus einer völlig anderen Perspektive. Wenn wir früher abwägen mussten, ob eine bestimmte Straße stark genug frequentiert ist, um auf ihr zu trampen, gehen jetzt vorrangig Bodenbeschaffung und Höhenprofil in die Überlegungen mit ein. Zudem sind wir nun den Elementen unmittelbarer ausgesetzt und auf Versorgungsmöglichkeiten angewiesen. Das bedeutet für uns Umdenken, noch befinden wir uns in einer Phase des Lernens und Ausprobierens. Ein guter Zeitpunkt, um mit ein wenig Abstand auf die Dinge zu blicken und so verabreden wir uns spontan mit Freunden in Bischkek, der hiesigen Hauptstadt. Wir lassen die Räder und einiges an Gepäck in Kochkor zurück und trampen unbeschwert in eine Woche Urlaub. So nennen wir eine Zeit, in der wir uns etwas gönnen, nicht zu streng auf unser Tagesbudget schauen und keine Strecke machen. Es vergeht eine wunderbare Woche mit schönen Gesprächen und vielen wertvollen Tipps der beiden, die bereits seit der Schweiz mit Rädern unterwegs sind. Am Ende findet sich eine passende Lösung unserer jeweiligen Packsysteme. Da die zwei bald die Heimreise ohne ihre Fahrräder antreten werden und die Radtaschen sich nicht weiter als handliches Reisegepäck erweisen würden, hätte das Timing zu einem Tauschhandel nicht besser für uns vier passen können. Wir bekommen zwei große Gepäckträgertaschen, einen wasserdichten Packsack sowie eine Lenkertasche und werden dafür einen unserer großen Rucksäcke los. Auf diese Weise sind wir allesamt perfekt für die Weiterreise gerüstet und haben, irgendwann in Europa, bereits ein weiteres Treffen in Aussicht, bei dem wir unsere Sachen wieder zurücktauschen werden, worauf wir uns allein schon des Wiedersehens wegen sehr freuen.

Wir sind uns einig, dass wir uns nach wie vor keine dogmatischen Regeln auferlegen möchten. Zugegeben: rückblickend haben wir das Trampen im vergangenen Jahr tatsächlich sehr eisern verfolgt, sind lediglich zweimal in einen Bus gestiegen und das noch nicht einmal aus der Not heraus. Per Anhalter unterwegs zu sein hatte für uns einfach wunderbar funktioniert. Dennoch hatten wir nun Lust auf etwas Neues. Dieser Schritt machte uns deutlich, wie bereichernd es sein kann, sich nicht zu sehr zu fokussieren und offen für Veränderungen und neue Wege zu sein. Im Hinblick auf unsere neue Fortbewegungsart bedeutet das, dass wir die Räder auch mal stehen lassen, einen Schlenker anderweitig zurücklegen oder die Drahtesel hin und wieder Huckepack nehmen. In Karakol unternehmen wir beispielsweise eine wirklich wunderschöne viertägige Wanderung, vorbei am türkisblauen Gebirgssee Ala-kul. Diese Tour ist sicherlich eine der beliebtesten Kirgistans, dementsprechend ist diese Gegend gut besucht. Da wir mit Reisebekanntschaften aus den letzten Wochen immer wieder ein Stückchen gemeinsam wandern, nehmen wir den Ausflug weniger als Massenevent wahr, sondern schätzen vielmehr die muntere Geselligkeit. Anderntags, geschafft von den andauernden schlechten Straßenverhältnissen rund um den Song-Kul-See, entscheiden wir uns, mal wieder die Daumen rauszustrecken. Nachdem wir eine ganze Weile im Schatten eines Baumes auf Fahrzeuge warten, dürfen wir unser Hab und Gut schließlich auf das Dach eines Tanklasters schnallen. Oh weia, ob es das wirklich wert ist? Uns ist etwas bange um die Fahrräder, sodass Simon bei jeder kleinen Pause nach oben klettert, um nach dem Rechten zu sehen. Zur Beruhigung unserer Nerven überreicht uns der nette LKW-Fahrer zum Abschied ein Fläschchen Hochprozentiges. 

Wir blicken zurück auf atemberaubend schöne Landschaften. Kirgistan begeistert uns vor allem in seiner Ursprünglichkeit. Zwar ist es entgegen unserer Erwartungen weitaus weniger flächendeckend grün, doch zeigt sich die Natur immer wieder in ihrer ganz eigenen wechselhaften Pracht. Das Land wird gerne als die Schweiz Zentralasiens bezeichnet, doch wird das der Weite und der größeren Unberührtheit nicht gerecht. Die weit verbreitete Subsistenzwirtschaft und ländliche Lebensart in Jurten, welche sich seit Zusammenbruch der Sowjetunion wieder großer Beliebtheit erfreut, bringen ein Landschaftsbild zu Gesicht, welches ein Genuss für das Auge darstellt. Dieses Potential wurde längst entdeckt, wodurch der Tourismus in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Ganz dem Vorbild des europäischen Pendants folgend wird dabei verstärkt auf den Ausbau nachhaltiger Tourismusangebote geachtet. Dass dies gelingt, die Menschen weiterhin ihrer bevorzugten Lebensweise nachgehen können und der Zauber Kirgistans noch lange erhalten bleiben mag, bleibt zu hoffen. Leider hat die Vergangenheit schon oft gezeigt, dass Massentourismus nicht nur wirtschaftlichen Aufschwung, sondern auch zahlreiche Herausforderungen zur Folge hat. In Traveler-Kreisen ist diesbezüglich gar von Reisezielen die Rede, welche man noch möglichst bald zu besuchen habe, bevor sie im Einheitsbrei der Globalisierung versinken. Erst neulich erzählt uns ein Bekannter, er fühle sich auf seinen Reisen manchmal gehetzt im Wettlauf gegen die Zeit. 

Es ist manchmal ein schmaler Grat, auf dem wir uns bewegen. Sind wir als Reisende nicht auch Teil eben dieser Einflüsse, die zu Entwicklungen führen, welche wir wiederum kritisieren? Kann man durch bewusstes Handeln und bewussten Konsum seinen Beitrag minimieren und schonend durch die Weltgeschichte tingeln? Sicherlich hinterlassen wir alle unsere Spuren, sei es in ökologischer, kultureller oder ökonomischer Sicht. Sich dessen stets bewusst zu sein und dementsprechend zu leben, sei es zu Hause oder eben zu Gast in der Welt, möchte ich mir sehr zu Herzen nehmen. Manchmal stellt uns dieses Streben durchaus vor Herausforderungen und fordert einen starken Willen, Versuchungen zu widerstehen, manchmal fällt es hingegen eher leicht, sich zu distanzieren und seinen Weg zu gehen, doch ist es immer ein Prozess, nach und nach überlegte Entscheidungen zu treffen und ganz bestimmt machen wir dabei noch lange nicht alles richtig (was auch immer das heißen mag). Aber das finde ich auch in Ordnung, denn auch hier lasse ich für mich gelten, dass man die Dinge nicht zu verbohrt angehen sollte. Diese Gedanken zu meiner Einstellung zum Reisen im Allgemeinen könnten als Zwischenfazit unseres einjährigen Reisejubiläums betrachtet werden. In letzter Zeit machen wir uns vermehrt Gedanken, die über das Hier und Jetzt hinausgehen und die auch schon mal unsere Zukunft in der Heimat betreffen. Jetzt steht China bevor und damit ein für uns völlig neues Kapitel. Wir sind sehr gespannt und glauben, dass das unbekannte Terrain unseren Entdeckergeist noch einmal neu beflügeln wird. Gleichzeitig fühlt es sich ein wenig so an, als würden wir mit dem kommenden Grenzgang eine Tür hinter uns schließen, denn die Möglichkeiten einer Rückreise über den Landweg werden sich nach diesem Zug erschweren. Das China-Visum außerhalb seines Heimatlandes zu bekommen, ist keine Selbstverständlichkeit. Daher können wir nicht einfach auf dem gleichen Weg wieder zurück. Eine Route über die Mongolei und Russland wäre nur unter großem Zeitdruck und im besten Fall im Sommer möglich. Bliebe also nur noch die südliche Tour über Südostasien, Indien, Pakistan und letztlich uns bereits bekannten Regionen. Wir werden sehen, welch Überraschungen uns die Reise noch zu offenbaren hat, denn das Unvorhersehbare ist nach wie vor der wahre Reiz dieser Unternehmung.