Aus dem Gleichgewicht

04.11.2018 - verfasst von Simon

Ich sitze am Schreibtisch eines überraschend geräumigen und komfortablen Hotelzimmers und grübele über die Einleitung dieses Artikels. Nachdem die erste Oktoberwoche, in der alljährlich die chinesische Bevölkerung ihren nationalen Urlaub wahrnimmt und als Folge dessen die Preise für Unterkünfte, Transportmittel und touristische Dienstleistungen in schwindelerregende Höhen schießen, gestern endlich ihr Ende gefunden hat, müssen wir von nun an nicht mehr ganz so tief in die Verhandlungstrickkiste greifen und konnten dieses Privatzimmer für umgerechnet lässige neun Euro beziehen. Jetzt sitzt Stephie fleißig an den letzten Zeilen des Textes zu Kirgistan und da ich ein Ungleichgewicht an Produktivität zwischen uns wenig ertrage, zwinge ich mich, eine Dokumentation auf Youtube zu unterbrechen und schon einmal erstes Resümee aus unserer bisherigen Zeit in China, diesem riesigen, uns so fremden Land zu ziehen. Selten haben wir auf unserer Reise so wenig an der Oberfläche einer Nation und ihrer Kultur kratzen und uns einen Reim auf eine Gesellschaft und ihre alltäglichen Gewohnheiten machen können. Wenn ich darüber nachdenke, welche Dinge in diesem Text erwähnt werden sollten, scheint mein Kopf vor lauter Eindrücken zu platzen. Ständig fallen mir neue Sachen ein, die ich hier unterbringen möchte und ich ahne, dass dieser Artikel ein recht ausführlicher werden könnte. Ich habe eine Stichwortliste mit Kleinigkeiten angefertigt, die in China anders und für uns nicht immer verständlich oder nachvollziehbar sind, von unschuldigen Aspekten, wie der niedlichen Volksmelodie, die aus den Lautsprechern eines jeden Müllabfuhrwagens ertönt, über absurde Banalitäten, wie der Nichtexistenz von Deodorants oder der Tatsache, dass die chinesischen Touristen auch schon auf 3000 Höhenmetern mit Sauerstoffflaschen herumlaufen, die ihnen von in Apothekerkitteln verkleideten Händlern verkauft werden, bis hin zu nervenaufreibenden Faktoren, deren Ansammlung auf meiner kleinen Liste leider am längsten ausgefallen ist. Beispiele hierfür wären etwa das allgegenwärtige Rotzen und Spucken, die Vorliebe für einzeln verpackte Lebensmittel (manchmal ist beispielsweise in einer Kekspackung jedes einzelne Gebäck extra in Plastik gehüllt) sowie die ständige Überwachung seitens der Behörden, deren Ausmaß wir durch den Umstand, dass unsere Handys manipuliert worden sind, persönlich erfahren mussten. Es wäre ein leichtes, die Liste einfach herunterzuleiern, doch das würde der Sache nicht gerecht. Stephie hat kürzlich gesagt, dass China ihr mehr abverlangt, mehr einfordert, als dass es ihr etwas zurückgibt und ich befürchte, ihr da mittlerweile Recht geben zu müssen, auch wenn wir beide stets versuchen, das Positive zu sehen. 

Beim Grenzübergang von Kirgistan ins Reich der Mitte wird bereits die Dreistigkeit, mit der die chinesischen Behörden ihre Sucht nach Macht und Kontrolle durchsetzen, mehr als deutlich. Wir reisen in die Xinjiang-Region ein, neben Tibet eine weitere riesige Provinz und autonomes Gebiet, wo Unterdrückung und Diskriminierung von kulturellen Minderheiten an der Tagesordnung stehen. Neben Nationalitäten aus den umliegenden zentralasiatischen Staaten, wie Kirgisen, Kasachen oder Usbeken, ist es vor allem das Volk der hiesigen Uiguren, die unter dem Staatsapparat zu leiden haben. Während man als Ausländer für den Besuch Tibets eine Sondergenehmigung sowie eine kostspielige geführte Tour über eine Agentur buchen muss, dürfen sich Touristen in Xinjiang zwar mehr oder weniger frei bewegen, werden jedoch mit Hilfe eines perfiden Überwachungssystems und einer grotesken Überpräsenz von Polizei und Militär unter ständiger Beobachtung gestellt. Ein Extrembeispiel hierfür stellt Kashgar dar, eine geschichtsträchtige Handelsstadt auf der alten Seidenstraße und unsere erste größere Zwischenstation. Mit einem Arsenal an Überwachungskameras und Polizeiblockaden an jeder Straßenecke scheint hier eine Dystopie wie aus George Orwells „1984“ bittere Realität geworden zu sein. Doch zurück zur Grenze. Wie schon im Voraus aus Berichten anderer Reisender erfahren, nehmen uns die Grenzbeamten unsere Handys ab und installieren auf diesen eine Spionage-Software, die von nun an nicht nur als Abhörgerät dient, sondern obendrein alle privaten Bilder herunterlädt, um sie in die berühmt berüchtigte Gesichtserkennungsdatenbank zu speisen. Widerstand zwecklos. Man stelle sich vor: Stephie und ich spazieren nichtsahnend über eine Verkehrskreuzung, während wir von den Kameras erfasst werden. Wie in einem Agententhriller ploppen in Echtzeit unsere Gesichter auf irgendwelchen Bildschirmen auf, die prompt unsere Namen und gesammelten Informationen herausspucken. Datenschutz: Fehlanzeige. Jede Person ist ein offenes Buch, alles im Namen des ach so fürsorglichen Vater Staats, zur Bekämpfung bzw. Vorbeugung von Kriminalität. Damit wir im Grenzgebiet ja nicht auf dumme Gedanken kommen, werden wir erst einmal aufgefordert, ein obligatorisches Sammeltaxi zu nehmen, das uns 140 Kilometer ins Landesinnere bringt. Anschließend ist es mit dem Fahrrad noch eine Tagesetappe bis Kashgar. Auf dem Weg dorthin finden etwa alle 20 Kilometer gründliche Polizeikontrollen samt Befragungen statt, die letzten 40 Kilometer werden wir gar von sich abwechselnden Polizeiautos eskortiert. Im Schneckentempo fahren sie hinter uns her, immer im Abstand von wenigen hundert Metern. Wenn wir anhalten, um etwas zu trinken oder uns im Gebüsch zu erleichtern, warten sie geduldig – alles angeblich zu unserer eigenen Sicherheit. Tatsächlich ist in dieser Region nach wie vor mit Unruhen und Aufständen seitens der Uiguren zu rechnen, wie in der jüngeren Vergangenheit schon öfters geschehen. Den wahren Grund für unseren „Begleitschutz“ sehen wir allerdings darin, uns davon abhalten zu wollen, in den Dörfern, die wir durchfahren, mit eben diesen Menschen in Kontakt zu kommen und eventuell etwas über die Hintergründe ihrer sensiblen Alltagsgestaltung zu erfahren. Als uns zufällig ein anderer Radreisender entgegen kommt, halten wir wie üblich an, um zu quatschen. Daniel aus Singapur ist gerade dabei, China hinter sich zu lassen und kann uns sicherlich ein paar hilfreiche Tipps geben. Der Polizeieskorte ist unser „unplanmäßiger“ Zwischenstopp und der mögliche Austausch von Insiderinformationen unter Individualreisenden natürlich ein Dorn im Auge. Kurzerhand holen sie auf, halten direkt neben uns und fordern uns auf, weiterzufahren. Wir erklären ihnen, dass sie sehr gerne schon einmal vorfahren könnten, wenn sie mögen, wir hingegen hier bleiben, um uns zu unterhalten. Erstaunlicherweise akzeptieren sie wortlos, parken hinter uns und warten, bis wir drei uns verabschieden. Später erfahren wir, dass Daniel anschließend ebenfalls eskortiert wurde, ihm es jedoch irgendwie gelang, seine Verfolger abzuwimmeln und zu zelten, was in dieser Provinz eigentlich strengstens verboten ist. 

Unsere Verfolger
Unsere Verfolger

Als wir den Stadtrand von Kashgar erreichen, lässt die Polizei uns endlich in Frieden. Wir haben schon einige Schauergeschichten von anderen Radreisenden gehört, die durch Xinjiang gefahren sind und deren Erzählungen vermuten lassen, dass das, was wir gerade erlebt haben, erst der Anfang war. Doch dieser kleine Einblick ist uns schon zu viel. Wir hatten bereits vor der Einreise damit geliebäugelt, in Kashgar einen Zug zu nehmen, der uns aus dieser Region herauschauffiert. Nicht nur der polizeilichen Schikane wegen, sondern auch, weil zunächst wochenlang monotone Wüstenlandschaften auf einen warten würden. Unser Visum ist ohnehin schon zu kurz, um alles zu radeln, daher fällt die Entscheidung ziemlich leicht. Da derzeit Semesterferien sind und viele Studierende kreuz und quer durchs Land und zu ihren Familien reisen, sind viele Fahrten schon ausgebucht. Wir ergattern zwei Tickets der günstigsten (weil einzig noch erhältlichen) Klasse namens „hard seater“ für einen Zug, der uns ca. 3000 Kilometer ins Landesinnere bringt – und das in läppischen 42 Stunden. Das entspricht einer gähnenden Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa 70 Kilometern pro Stunde. Doch die Länge der Zugfahrt macht uns weniger Sorgen als die Tatsache, dass wir noch nie zuvor auf dieser Reise eine so große Distanz in einer verhältnismäßig so kurzen Zeit zurücklegen werden. Wenn man bedenkt, wie langsam wir bisher unterwegs waren, sei es per Anhalter oder mit dem Fahrrad, fühlt sich dieser Schritt beinah so an, als würden wir ein Flugzeug besteigen.

 

Der Zug geht erst in drei Tagen. Zeit genug also, Kashgar ein wenig unter die Lupe zu nehmen und sich überhaupt kulturell erst einmal ein bisschen zu akklimatisieren. Die Stadt ist eines von vielen Beispielen im Lande, bei denen die Altstadt vor nicht allzu langer Zeit komplett renoviert wurde, sodass man ab und an das Gefühl hat, man laufe eher durch einen Freizeitpark als durch echte, bewohnte Straßen. Nichtsdestotrotz genießen wir die hübsche Architektur und die vielen neuen Eindrücke. Der lebendige Nachtmarkt mit den vielen verschiedenen Essensständen hat es uns besonders angetan. In China wird prinzipiell mit Stäbchen gegessen, egal ob Imbissbude oder Nobelrestaurant. Eine Besonderheit, an die wir uns schnell gewöhnen werden müssen und die wir zum Anlass nehmen, die Stadt und generell das Land vor allem auf kulinarischem Wege kennenzulernen. Wenn man als Vegetarier nicht allzu streng mit sich ist und akzeptieren kann, dass  viele fleischlose Gerichte oft in Fleischbrühe gekocht werden, kommt man ganz gut über die Runden. Uns wurde in der Vergangenheit immer wieder vorgeschwärmt, wie günstig das Essen in Restaurants in China und vor allem in Südostasien sein soll und dass es gar teurer wäre, selber Zutaten zu kaufen und etwas auf seinem Campingkocher zuzubereiten. Ein Grund, warum viele Langzeitreisende, sobald sie diese Region erreichen, ihren Kocher aus Gewichtsgründen per Post nach Hause schicken würden. Nun, das müsste ich selbst erst einmal überprüfen, um es zu glauben, hatte ich dann immer gedacht. Tatsächlich bestellen Stephie und ich nicht selten köstliche Gerichte, die einen für jeweils umgerechnet etwa einen Euro pappsatt machen. So probieren wir uns im Laufe unserer zwei Monate durch etliche Spezialitäten und lassen unseren Kocher häufiger als erwartet ungenutzt im Gepäck zurück.

Typisches Frühstück: vegetarische Teigtaschen und frische, heiße Sojamilch
Typisches Frühstück: vegetarische Teigtaschen und frische, heiße Sojamilch

Nach der anstrengenden zweitägigen Zugfahrt erreichen wir schließlich die Großstadt Lanzhou, geographisch betrachtet die Mitte des Landes. Von hier aus wollen wir uns in den nächsten sieben Wochen südlich Richtung Vietnam schlängeln. In den ersten Tagen durchfahren wir wunderschöne Hügel- und Terrassenlandschaften, vorbei an etlichen Tempelanlagen und kleinen authentischen Dörfern. Naiverweise hatte ich immer angenommen, dass es in ganz China lediglich eine Handvoll buddhistischer Tempel gibt, die sich im Laufe der Zeit zu touristischen Attraktionen etabliert haben. Das wäre in etwa so, als wenn der Kölner Dom die einzige Kirche in Deutschland wäre. Vergleichbar mit den vielen kleinen Kirchen und Kapellen bei uns daheim gibt es hier also eine beachtliche Anzahl an kleinen wie großen Tempeln, die in ihrem bescheidenen, da untouristischen Dasein meist ein schöneres Abbild geben als ihre glorifizierten Pendants. Jetzt spüren wir deutlich, dass wir in China, in Fernost, angekommen sind. Die alte Seidenstraße, welche uns seit dem Iran verfolgt hat, liegt nun endgültig hinter uns. Auf einer abgeschiedenen Landstraße, in die wir eher aus Versehen einbiegen, landen wir irgendwann in einem Dorf, wo wir spontan zu Nudelsuppe und Bier eingeladen werden. Es ist einer dieser Orte, bei denen man das Gefühl hat, der allererste ausländische Besucher zu sein. Da sich unser chinesischer Wortschatz auf Hallo, Danke und Deutschland beschränkt, nutzen wir eine Übersetzungsapp auf dem Handy, um einen zwar sehr simplen, aber immerhin halbwegs funktionierenden Dialog führen zu können. Später werden wir netterweise von einem Bekannten (liebes Dankeschön an Jochen!) noch einen übersetzten Text erhalten, der auf einer halben Seite zusammenfasst, wie und wohin wir reisen, und welcher des Öfteren für ungläubiges und zugleich anerkennendes Kopfschütteln sorgen wird. Doch selbst wenn die Leute hier und da schon mal Interesse an uns und unserem Vorhaben bekunden, wirkt der Großteil der Menschen, denen wir begegnen, tendenziell reserviert.

Die Abgeschiedenheit und Authentizität dieser Region hat ihren Preis. Zahlreiche Erdrutsche versperren die Straßen, lassen sie zum Teil gar einstürzen oder zu regelrechten Matschpisten werden. Glücklicherweise können wir unsere Fahrräder an den meisten Hindernisstellen einfach über die Erdmassen schieben, seltener müssen wir auch schon mal einen Umweg in Kauf nehmen. So erreichen wir bald darauf die Stadt Xiahe, die mit ihrem großen tibetischen Labrang-Kloster das ganze Jahr über Besucherscharen anlockt. Wir machen ein paar Tage Rast, auch weil Stephie und ich uns der hohen Lage und kühleren Temperaturen wegen eine Erkältung eingefangen haben. Als diese am Ende noch nicht ganz auskuriert ist, entscheiden wir uns, bis zur nächsten Stadt den Bus zu nehmen, denn allzu lange können wir nicht verweilen. Demnächst läuft unser Visum ab, welches wir in Leshan, einer größeren Stadt weiter südlich, verlängern möchten. Als wir wieder fit sind, genießen wir zwar die mehrtägige Abfahrt, die in die Ebene von Chengdu führt, doch bahnen sich gleichzeitig bereits die nächsten Störfaktoren ihren Weg. Neben einem Dutzend kilometerlanger Tunnel, die aus unerklärlichen Gründen unbeleuchtet sind und wir uns im Stockdunkel notgedrungen mit unseren schwachen Stirnlampen und Taschenlampen unserer Handys behelfen, ist es vor allem die lästige Huperei der motorisierten Verkehrsteilnehmer, die uns den letzten Nerv rauben. Ganz vorne dabei sind Fernbusse, pompöse SUVs und eine Legion an Baustellenfahrzeugen, die Teil eines im ganzen Land unaufhörlichen Baubooms zu sein scheinen und welcher mit hochverlegten Autobahnen und einer Flut an Hochhäusern die Landschaften so einiger schöner Täler verschandelt. Man stelle sich das schrille Geräusch eines über eine Kreidetafel kratzenden Fingernagels vor und verstärkt dieses mit alten fiependen Lautsprechern auf die Lautstärke eines Schiffshorns. Das entspricht ungefähr der kakophonischen Meisterleistung eines dieser eben genannten Fahrzeuge. Das Idiotische an der Geschichte: Sie hupen nicht etwa, um uns zu begrüßen, wie es in Zentralasien beispielsweise öfter der Fall war, sondern um uns vor ihrer Anwesenheit und ihrem Überholmanöver zu warnen, obwohl die lauten Motorengeräusche ihre Existenz immer schon eine halbe Ewigkeit zuvor verraten. Manchmal hupen sie genau neben uns und so laut, dass es in unseren Ohren schmerzt. Ich entdecke eine bisher unbekannte sadistische Ader in mir, stelle mir in rachesüchtigen Fantasien vor, wie ich die Arschgeigen mit guter Miene zum bösen Spiel zum Anhalten bewege, ihnen, sobald sie das Seitenfenster heruntergelassen haben, zwei Druckluftfanfaren, wie man sie aus Fußballstadien kennt, in die Fahrerkabine gestreckt halte und abdrücke. 

Manchmal heißt es leider auch Hupgebot statt Hupverbot
Manchmal heißt es leider auch Hupgebot statt Hupverbot

Ich würde mich eigentlich als gelassenen Zeitgenossen bezeichnen. Es braucht schon einiges, um mich auf die Palme zu bringen, doch der chinesischen Huperei gelingt es mit Bravour, mich in diesen Zustand zu versetzen. Einmal müssen wir wegen Bauarbeiten auf die Autobahn ausweichen und werden durch einen in diesem Fall zwar beleuchteten, aber dafür fünf Kilometer langen, einspurigen Tunnel geschleust. Hupen ist hier eigentlich verboten. Eigentlich. Ich fahre vor und versuche meditativ die Warnsignale zu ignorieren, die von fast allen vorbeifahrenden Fahrzeugen unmittelbar neben uns abgegeben werden. Im Tunnel hat der Schall keine Chance zu entweichen, sodass dieser mit geballter Kraft in unseren Gehörgängen landet. Als ein Bus hinter mir partout nicht überholen will und mit seinem übertriebenen Gehupe etwas erreichen möchte, von dem der Fahrer selbst vermutlich nicht einmal weiß, was es sein könnte, verliere ich die Fassung. Ich fuchtele fuchsteufelswild mit den Armen, versuche ihm zu verstehen zu geben, dass er endlich vorbeifahren und mich in Ruhe lassen soll, was ihn wiederum dazu bewegt, nur noch mehr zu hupen. Ich schreie mir die Seele aus dem Leib, mache noch heftigere Armbewegungen und verliere dabei die Spur, während Stephie etwa 50 Meter hinter mir besorgt die Szene verfolgt. Als endlich eine kleine Parkbucht erscheint, fahre ich zur Seite und der Bus überholt. Stephie holt mich ein und versucht, mich zu beruhigen, während ich feststelle, dass ich etwas heiser geworden bin. Es stimmt ja: sich ärgern bringt eh nichts und selbst wenn es uns weiterhin schwer fällt, das hirnlose Gehupe zu ignorieren (auch Stephie entgleitet hier und da schon mal der Mittelfinger), so muss ich doch ständig an Reisende denken, die schon mal in Ländern wie Indien oder Pakistan unterwegs waren und die über unsere Aufregung vermutlich nur schmunzeln können. 

Flora und Fauna ändern sich
Flora und Fauna ändern sich

Während wir weiterhin an Höhe verlieren, steigt kontinuierlich die Temperatur und damit auch die Vorfreude auf Südostasien. Das hiesige feuchte, subtropische Klima und die vielfältige Flora geben einen ersten Vorgeschmack auf das, was uns demnächst in den „Wintermonaten“ in Vietnam, Laos & Co erwartet. Wir fahren durch Bambuswälder, vorbei an Wasserbüffeln, Bananenstauden und etlichen Pflanzen und Bäumen, die wir noch nie zuvor gesehen haben. In dieser Region lebt auch eine große Population von Pandabären, teils in freier Wildbahn, teils in verschiedenen Zuchtstationen, deren Personal mit größter Mühe versucht, dem Aussterben der kopulationsfaulen Bärenart entgegenzuwirken. In Chengdu treffen wir Freunde wieder, die wir damals im Iran kennengelernt hatten und die zu den Radreisenden gehören, deren Erzählungen in uns den Wunsch auslösten, einmal selber aufs Fahrrad umzusteigen. Während Stephie und ich noch etwas ratlos sind, was den kommenden Routenverlauf betrifft, sind die zwei sich sicher, einen westlichen Schlenker über die Ausläufer des Himalaya-Gebirges zu unternehmen. Nach den Bergregionen in Kirgistan und den steilen Etappen der letzten Wochen sind wir mental eigentlich schon reif für Sonne und Meer an der vietnamesischen Pazifikküste, doch lässt uns die Schwärmerei der beiden dazu verleiten, den anstehenden Sommerurlaub zu verschieben und stattdessen für die nächsten drei Wochen erst noch einmal dünne Bergluft zu schnuppern. Nachdem wir unser Visum erfolgreich verlängert haben, geht es los. Von wenigen Metern über dem Meeresspiegel hinauf bis auf über 4000 Höhenmeter. Verglichen mit den Steigungen, die wir hier zu bewältigen haben, wirken die Anstrengungen aus unserem Kirgistan-Video lachhaft. An einigen Tagen stehen schon mal Anstiege von bis zu 1800 Höhenmetern an, überqueren unseren bisher höchsten Pass gar auf 4500hm. Dennoch: die Mühen lohnen sich schon allein der grandiosen Aussichten wegen. Und wer sich eine geführte Tour nach Tibet sparen möchte, kann hier ein Stück weit die liebevolle Kultur dieser Volksgruppe erleben, deren Angehörige, so lese ich zufällig auf Wikipedia, häufig eine Genvariante besitzen, die sie immun gegen die Höhenkrankheit macht. Diese Gene hätten wir auch gerne. Anfangs haben wir eher bescheidenes Wetter, werden aber dafür ab der zweiten Woche mit einigen der schönsten, goldenen Herbsttage belohnt. Mit Beginn dieser Jahreszeit sinken nun allerdings auch täglich die Temperaturen. Einmal zelten wir auf ca. 4200hm; wenige Tage darauf wäre das mit der beschränkten Wirksamkeit unserer Schlafsäcke schon nicht mehr möglich gewesen. Als wir Litang erreichen, hat sich Stephie leider erneut eine Erkältung zugezogen. Nach ein paar Tagen Rast stellen wir uns daher morgens auf die Straße und halten den Daumen heraus. Fünf Minuten später hält plötzlich ein Jeep mit italienischem Kennzeichen. Das gibt's doch nicht! Mit dem eigenen Fahrzeug darf nur nach China einreisen, wer einen privaten Führer engagiert, der einen die ganze Zeit über begleitet. Ein teurer und komplizierter Spaß, der viele „Overlander“ dieses Land meiden lässt und man diese Reisenden daher so gut wie nie zu Gesicht bekommt. Doch tatsächlich: Der sympathische Filmemacher aus Mailand stellt sich uns als Gianpiero vor und hat die Muße, uns und unsere Fahrräder Huckepack zu nehmen. Kurz darauf treffen auch noch zwei Paare aus Holland und Ungarn mit ihren Fahrzeugen auf. Die drei Parteien haben sich vor ihrer Einreise über eine Internetplattform kennengelernt, um sich die Kosten eines Guides aufzuteilen. So fahren sie mehrere Wochen im Konvoi quer durch China. Gianpiero nimmt uns für die nächsten 80 Kilometer über einen hohen Pass mit. Eigentlich war ich zugegebenermaßen etwas enttäuscht, dass wir mal wieder „tricksen“ und nicht selber in die Pedale treten, hatte für Stephies Erkältung indessen natürlich vollstes Verständnis. Als wir jedoch schließlich den Pass erreichen und dort in einen dicken Schnee- und Hagelsturm geraten, bin ich plötzlich heilfroh, im kuschelig warmen Auto zu sitzen. 

Einer von vielen Pässen
Einer von vielen Pässen

Die folgenden Tage mutet sich Stephie das Radeln wieder zu. Als wir eines Morgens auf unsere Routen-App schauen und feststellen, dass wir auf der letzten Etappe nach Shangri-La unglaubliche 2800 Höhenmeter bewerkstelligen sollen, wird uns das Ganze zu bunt. Wir fahren erst einmal gemütlich los, sind uns jedoch einig, bei jeglichem Fahrzeug, das von hinten kommt und in unsere Richtung fährt, nach einer Mitfahrgelegenheit zu fragen. Blöd nur, dass hier kaum Verkehr herrscht und die bisher doch so schön asphaltierte Straße plötzlich zu einer Holperpiste wird. Nach ein paar Stunden kommt endlich ein Pickup vorbei. Die Insassen fahren zwar nur drei Kilometer weit, doch ist der Zustand des Weges so miserabel, dass wir das bescheidene Angebot gerne annehmen. Nach nur einem Kilometer und zahlreichen spitzen Felsbrocken hat der Wagen jedoch einen platten Reifen. Also alles wieder herunter von der Ladefläche und weiter geht's. Ich bin irritiert und genervt. Auf unserer App heißt es, die Straße sei komplett durchasphaltiert. Es kann sich also nur um wenige Meter handeln, bevor es wieder besser wird. Es wird nicht besser. Im Gegenteil. Die Piste wird so steil, dass wir bald schieben müssen. Am Ende unserer Kräfte schlage ich vor, eine Snackpause zu machen. Schließlich kam bei der letzten Rast der Pickup vorbei, vielleicht haben wir dieses Mal wieder Glück. Während wir missmutig einen Keks nach dem anderen mampfen, traue ich meinen Ohren kaum, als auf einmal ein weißer SUV um die Ecke poltert. Der Fahrer steigt gleich aus und macht eine heranwinkende Bewegung, wir sollen alles einladen und einsteigen. Nur wie? Das Auto ist quasi schon voll, überall lagern große Plastikboxen. Selbst ohne Fahrräder würde es schon eng. Doch unser Retter in der Not akzeptiert keine Widerrede. Als wir nach mehreren Anläufen immer noch keine Packlösung gefunden haben, will ich enttäuscht aufgeben. Das passt nie und nimmer. Der gute Mann lässt jedoch nicht locker, seine Kleidung ist vom Hin- und Herschieben der Räder schon komplett verschmutzt. Irgendwas scheint er zu wissen, was wir noch nicht erahnen können. Vielleicht will er Geld, immerhin ist Trampen gegen einen Obolus in China keine Seltenheit. Na, und wenn schon. Hauptsache weg hier. Nachdem wir alle Räder sowie Sättel abmontiert haben, schaffen wir es irgendwie, jede noch so kleine freie Ritze im Innenraum zu stopfen, am Ende quetschen Stephie und ich uns zusammen auf den Beifahrersitz. Was dann die nächsten 70 Kilometer folgt, ist die vermutlich furchterregendste und holprigste Straße, die wir je erlebt haben. Immerzu nah am Abhang windet sich der Weg steiler und steiler den Berg hoch, auf scharfkantigem Fels, Schotter und Matsch. Wir sind wahnsinnig dankbar, dass unser Fahrer so sehr darauf bestanden hat, uns mitzunehmen. Als wir am frühen Abend endlich die Stadt erreichen und wir alles ausgeladen haben, kommt der Moment der Wahrheit. Wie viel wird er wohl verlangen? Doch der liebenswerte Anhalter grüßt nur herzlich und verabschiedet sich, seine Frau warte. Ob wir ihn nicht zumindest zum Essen einladen könnten? Nein nein, seine Frau habe doch schon gekocht. Er grinst, winkt und ist schon verschwunden. Wahnsinn. Insgeheim frage ich mich beschämt, ob ich selber an seiner Stelle den Aufwand auf mich genommen und zwei dreckige, stinkende Radreisende mit Hab und Gut in mein schon volles Auto gestopft hätte, nur um im nächsten Moment zu denken, dass ich spätestens jetzt, nachdem wir eine so bedingungslose Hilfeleistung erfahren haben, irgendwann einmal hoffentlich die Gelegenheit bekomme, den Gefallen einem anderen Menschen erwidern zu können, so wie auch die vielen anderen Gesten und Großzügigkeiten, derer wir auf dieser Reise bereits Zeuge sein durften und welche wir nach Möglichkeit in Zukunft weitergeben möchten. Manchmal stelle ich mir vor, wie wir in ein paar Jahren zu Hause zufällig auf Reisende stoßen und diese spontan in unser kleines Häuschen einladen, sie zum Übernachten überreden und verköstigen. Als wir vor einiger Zeit einmal von der Familie eines guten Freundes in Slowenien auf ähnliche Weise eingeladen worden sind und wir damals mit dieser Großzügigkeit noch nicht umzugehen wussten, hatte der Vater diesbezüglich gesagt, dass er früher selber viel unterwegs und auf Reisen war und derartige Gastfreundschaft erleben durfte, sodass es ihm heutzutage eine große Freude sei, diese zurückzugeben. Mittlerweile können wir das nur allzu gut nachvollziehen. Wir denken nach wie vor recht häufig an die Heimat, an unsere Familien und Freunde, an unsere Zukunft, an mein Klavier und natürlich an all die kulinarischen Köstlichkeiten, die daheim alltäglich, für uns jedoch hier unerreichbar bzw. unerschwinglich sind. Gutes Brot, Käse, Schokolade oder ein Glas Wein. Und wir kommen nicht umhin, uns zu fragen, ob die Reise nicht in absehbarer Zeit ein Ende finden sollte. Inzwischen können wir uns gut vorstellen, in Südostasien zu „überwintern“, um anschließend mit einem Frachtschiff (z.B. von Singapur) nach Europa zurückzukehren und im Frühling das letzte Stück von irgendeinem Hafen bis nach Hause zu radeln. 

Während diese Gedanken im Kopf herumschwirren, erleben wir eine deprimierende Pannenserie, die ihresgleichen sucht. In einem zweiwöchigen Zeitraum haben wir acht Platten und drei Speichenbrüche. Meine Kette klemmt einmal so stark hinter der Kassette, dass ich sie nur mit roher Gewalt herauskriege und dabei ein kleines Ritzel am Schaltwerk bricht. Stephies Gangschaltung zickt ohnehin schon seit geraumer Zeit herum und lässt sich von Tag zu Tag schwerer bedienen. Zu guter Letzt gibt unsere Luftpumpe den Geist auf. Hier rächt sich plötzlich die mäßige Qualität unserer Drahtesel und unseres Zubehörs. Ein guter Zeitpunkt, um sich etwas abzulenken und ein kleines Experiment zu wagen. Schon länger verlockt es uns, für ein paar Tage mal individuell unterwegs sein. Stephie wird den Zug von Dali nach Kunming nehmen, während ich die Strecke in vier Tagen mit dem Fahrrad fahre. Es ist das erste Mal seit Beginn der Reise, also seit über 14 Monaten, dass wir mal mehr als ein paar Stunden voneinander getrennt sind. Der Abschied fällt überraschend leicht. Klar, in der Vergangenheit mussten wir durch ausgiebige Auslandsaufenthalte schon deutlich längere Zeiträume ohne den jeweils anderen auskommen. Dennoch ist dies etwas Besonderes. Wir sind beide guter Dinge, genießen die Abwechslung und die ungewohnte Freiheit, selbst bei banalen Dingen im Alltag keine Kompromisse eingehen zu müssen, sondern alles selber entscheiden zu können. Wann man Pause macht, was man isst, wo man schläft. Wir beide lüften unsere Köpfe und freuen uns nach vier Tagen sehr, wieder beisammen zu sein.

 

Unser Visum geht bald zu Ende. Schluss mit China. Jetzt haben wir Lust auf Sonne und Strand, auf exotische Früchte und flache Etappen. Also auf in die verdienten Ferien nach Südostasien, dem voraussichtlich letzten großen Kapitel unserer Reise. Aus Zeitgründen nehmen wir für die letzten 400 Kilometer den Zug zur vietnamesischen Grenze. Um mit China, diesem speziellen Land, angemessen abzuschließen, müssen wir uns doch tatsächlich noch mit dem Bahnhofspersonal anlegen, welches sich in seinen widersprüchlichen Aussagen verstrickt, was die Mitnahme unserer Fahrräder angeht und beinah dazu führt, dass wir den Zug verpassen. Jetzt können wir es kaum erwarten auszureisen. Der Grenzübertritt entpuppt sich als Kinderspiel. Wir sind in Vietnam. Kaum zu fassen, was auf einmal wieder für eine andere Stimmung herrscht. Die Menschen grüßen mit einer Herzlichkeit, von der man glauben darf, dass sie ehrlich gemeint ist. Stephie fasst den auffälligen Verhaltensunterschied in ihren eigenen Worten treffend zusammen: „Das ist wirklich Balsam für die Seele – als hätten alle kollektiv den Stock ausm Arsch genommen.“