ein schritt zurück

15.01.2018 - verfasst von Simon

Ich knie auf der Terrasse, tauche den Schwamm in das Spülwasser und verteile dieses großzügig auf der vor mir liegenden Isomatte. Nach und nach bilden sich hier und da kleine Blubberbläschen. Eins, zwei, drei, vier – vier gemeine Löcher. Kein Wunder: zuletzt mussten wir unseren Schlafuntergrund stündlich aufpusten. An erholsame Nächte war nicht mehr zu denken. Nachdem Stephie darauf beharrt hatte, erst einmal Flickzeug zu besorgen statt sich gleich eine neue Matte anzuschaffen und ich sie ja auch eigentlich für diese Denkweise so schätze, beschleicht mich nun beim Anblick der fröhlich vor sich hin sprudelnden Stellen das leise Gefühl, es dieses Mal mit dem Sinn fürs Reparieren statt Wegwerfen ein bisschen übertrieben zu haben. Meine Freundin schiebt unbeirrt die Lippen vor:  „Joa, da hat sich das Einseifen doch gelohnt.“    

 

Wir befinden uns zurzeit auf Euböa, Griechenlands zweitgrößter Insel, und nutzen den letzten Tag in unserem Workaway-Projekt, um einige Dinge (uns eingeschlossen) einer Generalüberholung zu unterziehen. Wir flicken die Löcher in der Isomatte, nähen zerrissene Stellen am Rucksack, waschen Wäsche und laden Akkus. Abschließend verpasst uns Stephie jeweils einen neuen Haarschnitt. Mit ambivalenten Gefühlen lassen wir die letzten zwei Monate in diesem Land Revue passieren. Eigentlich haben wir überwiegend erfreuliche Erfahrungen gemacht. Die Landsleute, das Essen, die Natur, das Klima – vieles hat uns sehr gut gefallen. Und doch mussten wir vor allem zu Beginn alles unweigerlich mit Albanien vergleichen. Dort, wo die Menschen einem mit selbstloser Gastfreundschaft begegnen, wo sich alles ein bisschen informeller und unkomplizierter abspielt. Als wir die Grenze zu Griechenland überschreiten, kommt es uns teilweise so vor, als hätten wir auf unserer Reise in die Ferne einen großen Schritt zurück gemacht. Während wir uns in Albanien an der einzigen Ampel des Landes erfreuen, stoppen wir in der wohlausgebauten Infrastruktur Griechenlands häufiger als uns lieb ist. Wir sind wieder in der EU. Das äußert sich nicht nur in offensichtlichen Aspekten, wie der vertrauten Währung und dem hohen Preisniveau, sondern auch beispielsweise in der wieder häufiger verbreiteten Skepsis der Autofahrer, die wir zum Anhalten bewegen wollen. Trampen erweist sich hier zunächst als zähe Angelegenheit und bei so mancher tristen Stunde am Straßenrand sehnen wir uns in den Balkan zurück, wo es schon mal vorkam, dass plötzlich ein Fahrzeug neben uns gestoppt hat, noch bevor wir überhaupt den Daumen ausgestreckt hatten. Jetzt werden die ausweichenden Blicke und entschuldigenden Gesten der Griechen wieder zur Geduldsprobe. Doch gibt es natürlich auch viele wunderbare Begegnungen und per Anhalter durch dieses Land zu reisen entpuppt sich letzten Endes als nicht ganz so ermüdend wie anfangs befürchtet. Vielmehr sind es vor allem Faktoren höherer Gewalt, die unseren Reisealltag spürbar ändern. Der Herbst bricht ein. Die Tage werden kürzer, die Temperaturen niedriger, sodass wir zunehmend auf Couchsurfer angewiesen sind, die uns kostenlos bei sich hausen lassen, denn zum Zelten wird es langsam zu kalt. Ist Couchsurfen nicht möglich, müssen wir auf Unterkünfte ausweichen, was unser Budget wegen des besagten Preisniveaus ganz schön herausfordert. Irgendwie schaffen wir es dennoch, seit Beginn unserer Reise täglich nicht mehr als zehn Euro auszugeben.

 

Von Kälte und weniger Tageslicht einmal abgesehen, genießen wir den Charme der sentimentalen Jahreszeit. Anfang November begrüßt uns der Norden Griechenlands in seiner schönsten Herbstpracht. Ein dem amerikanischen Indian Summer ähnliches Farbenspiel erstreckt sich über die Zagori-Region, die uns mit ihren zahlreichen Dörfern aus traditionellen Steinhäusern und dem Vikos Canyon, welcher zu den tiefsten Schluchten der Erde zählt, in ihren Bann zieht. Nicht weniger beeindruckend sind die Meteora-Klöster, eine Reihe von Klöstern, die auf absonderlich aussehenden, hohen Sandsteinfelsen gebaut wurden, was unerwünschten Gästen den Zutritt unmöglich machte. Bis vor nicht allzu langer Zeit war der einzige Zugang zu solch einer Mönchsresidenz ein an einem Flaschenzug hängender Korb. Noch heute werden die verbliebenen, bewohnten Klöster durch ähnliche, elektrisch betriebene Seilzüge mit Lebensmitteln und Alltäglichem versorgt. Wir nehmen uns vier Tage Zeit, um auf besseres Wetter zu warten und die Region ausgiebig zu bewandern. Unvergesslich eine Nacht, in der wir aus Angst vor einem Gewitter immer wieder unser Zelt verlassen, da wir dieses völlig unvorteilhaft auf einem Plateau platziert hatten. Unter dem Vordach eines geschlossenen Hotels suchen wir Unterschlupf. Es ist der 11. November. Um uns bei Laune zu halten, stimmen wir lauthals Karnevalslieder an, doch der anhaltende Regen und die Blitze übertrumpfen unsere Heiterkeit. Um vier Uhr früh ist das Unwetter endlich vorüber und wir fallen todmüde in unsere Schlafsäcke. Am nächsten Morgen belohnen wir uns ausgeschlafen mit heißer Schokolade und den letzten Madeleines, die Stephies Eltern ihr zum Geburtstag nach Albanien geschickt hatten.

 

Nach einem Abstecher in Volos geht es weiter nach Thessaloniki, Griechenlands zweitgrößter Stadt. Hier bleiben wir zwei Wochen, um in einem Warenhaus auszuhelfen, welches Kleider- und Hygieneartikel aus ganz Europa erhält, diese sortiert und anschließend an Flüchtlingscamps im Norden des Landes verteilt. Die Arbeit ist zwar etwas monoton, da sie sich im Wesentlichen auf das Einordnen der Kleidung in die verschiedenen Geschlechter und Größen beschränkt. Nichts desto trotz erhält man schnell den Eindruck, wie wichtig und sinnvoll diese Arbeit ist, insbesondere wenn sich, wie jetzt, bei Wintereinbruch die Bestellungen für warme Kleidung häufen. Zu wissen, dass jede Winterjacke, jeder Babypyjama, jede Kindermütze, jedes Paar Socken, welches man in den Händen hält und auf Sauberkeit und Unversehrtheit prüft, in diesen Tagen händeringend benötigt wird, macht diese Aufgabe zu etwas inhaltlich sehr besonderem. Hinzu kommen ein wirklich herzliches Team von Freiwilligen und Mitarbeitern, eine motivierende Arbeitsmoral aller Mitwirkenden sowie eine sensible Handhabung und Ethik rund um das Thema Geflüchtete. So bewahrt die Organisation die umliegenden Flüchtlingscamps etwa vor möglichem „Freiwilligentourismus“, indem sie lediglich langfristige Freiwillige, die mehrere Monate aktiv sind, zu den Camps fahren und die Bestellungen liefern lassen. So können die Menschen vor Ort eine Beziehung zu diesen Freiwilligen aufbauen und müssen sich nicht Woche für Woche an neue, möglicherweise gaffende Gesichter gewöhnen, die vor allem mal Flüchtlinge mit eigenen Augen gesehen haben wollen. Für Stephie und mich fällt dieser Teil der Arbeit also raus und wir begrüßen die Diskretion, mit der die Organisation diese sensible Thematik angeht.

Einmal erhalten wir dann allerdings doch die Möglichkeit, mit Geflüchteten in Kontakt zu treten. An einem der Tage helfen wir ausnahmsweise in der Küche aus und liefern abends zusammen mit einem Schweizer Pärchen und ihrem Bulli das sorgfältig in Aluschalen verpackte Essen in die Innenstadt, um es dort an die Menschen zu verteilen, die aus irgendeinem Grund (meist wegen ihres „sicheren“ Herkunftslandes) nicht in einem regulären Camp aufgenommen werden und daher auf den Straßen hausen müssen. Während die anderen drei mit der Essensausgabe beschäftigt sind, fülle ich dutzende Einwegbecher mit heißem Tee ab und werde von zwei Männern gleich mit Fragen bombardiert. Wo kommst Du her? Aus Deutschland? Gibt es schon eine neue Regierung? Wird Deutschland mehr Flüchtlinge aufnehmen? Was gibt es neues vom Dublin-Verfahren? Kannst Du uns Kleidung besorgen? Alles Fragen, die ich nicht beantworten kann geschweige denn beantworten dürfte, selbst wenn ich die Antwort wüsste. Zu groß ist die Gefahr, dass die Menschen auf Basis von schwammigen Informationen unüberlegt handeln oder falsche Versprechungen, wie etwa die Zusage von Kleiderspenden, zu Konflikten führen. Also sich dumm stellen und versuchen, die Gesprächsthemen auf weniger Sensibles zu lenken. Es gelingt mir nicht. Ich fühle mich hilflos und trete geistesabwesend in eines der größten Fettnäpfchen, indem ich die beiden Männer frage, aus welchem Land sie stammen. Dieses Thema, so erklärte man uns im Voraus, sollte unbedingt vermieden werden, da es die Befragten an mögliche Traumata aus ihren Heimatländern erinnern könnte. Glücklicherweise wird mir die Frage nicht verübelt.

Wir wissen die Erfahrungen aus der Zeit beim Warenhaus sehr zu schätzen und freuen uns, nachdem wir bisher das Gefühl hatten, auf unserer Reise in vielerlei Hinsicht beschenkt zu werden, nun die Möglichkeit genutzt haben zu können, etwas zurückzugeben. Wer mehr über die Organisation mit dem Namen „Northern Greece volunteers“ erfahren oder vielleicht selbst einmal aktiv werden möchte, kann hier einen Blick auf die Website werfen.

 

Wir verlassenen Thessaloniki und machen uns auf Richtung Süden, der Sonne hinterher. Auf der Autobahnraststätte gabelt uns ein enthusiastischer, anarchistischer Spanier auf, der uns die gesamte Strecke bis nach Athen mitnimmt und der genauso gespannt ist wie wir, herauszufinden, ob man die Mautstationen austricksen kann. Wir reihen uns in die Autoschlange ein. Nachdem der PKW-Fahrer vor uns gerade bezahlt hat, geht die Schranke auf. Er fährt los und wir kleben uns an sein Heck. Schwups, wir sind durch, bevor die Schranke uns erwischt, ein kurzer Alarmton, doch das ist egal. Verfolgt oder geahndet wird man laut Erfahrungsberichten ohnehin nie. Ein Großteil der griechischen Bevölkerung scheint über die Tatsache zu stöhnen, dass die Profite des Privatunternehmens offensichtlich nicht für die Ausbesserung der Straßen genutzt werden. So tricksen wir uns guten Gewissens durch ein Dutzend Schranken und sparen an diesem Tag um die 40 Euro. Am gleichen Abend kommt Stephie die Idee, einen Adventskalender für unseren Blog einzurichten. Die nächsten drei Wochen laden wir mehr oder weniger täglich jeweils ein Foto mit einer kleinen Alltagsgeschichte hoch. Zwar ist es nicht immer leicht, Internet zu finden oder sich an manchen Tagen überhaupt eine Idee aus den Fingern zu saugen, doch erweist sich die Aktion als schöne Gelegenheit, einen ausführlichen Bericht über unsere neuesten Erlebnisse noch etwas hinauszuzögern.

Wir tasten uns gemütlich an der Ostküste von Peleponnes entlang, vorbei an dem hübschen Nafplio, dem Kletterparadies Leonidio und dem bezaubernden Monemvasia und genießen die letzten milden Nächte des Jahres. Hier zeigt sich das Land von einer deutlich entspannteren und offenherzigen Seite. Absolutes Highlight ist die Begegnung mit einem deutschen Auswanderer, der uns einlädt, zwei Nächte in einer seiner wunderbaren Ferienwohnungen auf der Landzunge Mani zu verbringen. Sein großzügiges Angebot kommt uns wie gerufen. Wir können nach langer Zeit wieder duschen, Wäsche waschen und die Beine hochlegen. Uns gefällt es so gut, dass wir einen Monat später mit meinen Eltern zurückkehren werden. Diese hatten inzwischen nämlich beschlossen, uns an Sylvester für eine gute Woche zu besuchen. Drei Stunden dauert der Flug von Köln nach Athen. „Das ist länger, als ich gedacht hätte.“, sage ich zu meinem Vater. „Naja“, kommentiert er trocken, „Ihr habt fünf Monate gebraucht“. Mit Blick auf die Akropolis feiern wir zusammen in das neue Jahr und beginnen dieses mit Erkundigungen durch Griechenlands Hauptstadt. Anschließend fahren wir mit einem Mietwagen wieder nach Peleponnes, besichtigen uns sowohl bekannte wie neue Pfade und genießen es sehr, gemeinsam Zeit zu verbringen und uns ausgiebig auszutauschen.

Nach diesem eingeschobenen Urlaub kehren wir wieder in unser Workaway-Projekt zurück, wo wir bereits um die Weihnachtszeit herum gearbeitet haben. In diesen Tagen beschneiden wir weitere Olivenbäume, begradigen Gehwege, verbrennen überschüssiges Geäst und stimmen uns langsam auf die Weiterreise in die Türkei ein.