Die letzte Etappe

12.02.19 - verfasst von Simon

Es ist dunkel und die Straßenbeleuchtung dürftig. Dick eingepackt schlendern wir über den vereisten, einsamen Bürgersteig. Hier und da ist in den Fenstern beleuchtete Weihnachtsdekoration zu sehen, die zwar nicht unbedingt geschmackvoll ist, aber dennoch eine wohlig warme Gemütlichkeit ausstrahlt. Langsam gerät das Haus mit der Nummer 6 ins Blickfeld. „Die Lichter sind an.“, stellt Stephie erleichtert fest. „Das muss nichts heißen“, erwidere ich, „die Lampen lassen sie zur Sicherheit auch an, wenn sie das Haus verlassen.“ Wir erreichen das kleine, rot angestrichene Törchen und stehen kurz darauf vor der Haustür. Ich drücke auf den alten Klingelknopf, vernehme das vertraute „Ding-Dong“ aus dem Innern des Hauses. Einen Moment lang passiert nichts. „Hoffentlich sind sie da“, sagt Stephie. Ich blicke zu ihr. Meine Knie zittern, doch nicht wegen der eisigen Kälte - ich bin einfach nur wahnsinnig nervös. Durch das milchige Glas erkennt man jetzt die Silhouette einer Person, die sich allmählich der Tür nähert. Vorsichtig wird sie geöffnet. „Hallo Papa“, sage ich leise und lächle. 

Stephie nippt an ihrem laotischen Kaffee, der wegen der hierzulande so beliebten Kondensmilch mal wieder viel zu stark gesüßt ist. Wir sitzen auf der Terrasse eines kleinen Cafés. Die Sonne scheint und ein paar Tränen kullern über meine Wangen. Sie hält inne und grinst mich an.  „Also wenn allein der Gedanke daran schon Freudentränen bei Dir auslöst, dann ist das die richtige Entscheidung“. Es ist Mitte November. Fünf Minuten zuvor haben wir uns überlegt, wie es wäre, wenn wir zu Weihnachten die Reise beenden, zurückkehren und unsere Familien zu Hause überraschen…

Obstmarkt am Straßenrand
Obstmarkt am Straßenrand

Eigentlich hätten wir uns gut vorstellen können, noch ein bisschen länger in Laos zu verweilen, allerdings drängt die Zeit. Von Pakse, einer größeren Stadt nahe der thailändischen Grenze, bis zur Insel Koh Kut sind es über 800 Kilometer, die wir in neun Tagen abfahren wollen. Es wird der längste Abschnitt, den wir an einem Stück, also ohne Rasttag, mit dem Fahrrad bewältigen - und leider auch einer der eintönigsten. Doch das macht uns wenig aus. Schließlich wartet am Ende dieser Durststrecke ein einwöchiger Strandurlaub auf uns, unser Abschluss, das Finale einer 16-monatigen Reise. Außerdem, so absurd das klingen mag, genießen wir die Struktur auf diesem bevorstehenden Abschnitt, betrachten das Fahrradfahren und seine dazugehörigen alltäglichen Rituale wie eine normale Tätigkeit, eine Arbeit, mit der wir uns die anschließenden Ferien verdienen. Des Weiteren lassen uns diese Tage mit ihrer meditativen Unaufgeregtheit genügend Zeit, um die letzten knapp 1,5 Jahre zu reflektieren und uns auf die bevorstehende Heimkehr mental vorzubereiten.

Der Grenzübergang geht problemlos von statten. Auf einmal herrscht Linksverkehr. Schnell wird deutlich, dass in Thailand mal wieder ein anderer Wohlstandswind weht. Man sieht es an der ausgebauten Infrastruktur, den vielen Supermarktketten, den wieder etwas beleibteren Leuten oder der schier unglaublichen Anzahl an pompösen Pickups. Das freundliche und unkomplizierte Gemüt der Menschen, wie wir es bereits in Laos kennenlernen durften, bleibt indes unverändert. Wir fahren entlang der kambodschanischen Grenze, hauptsächlich durch flache Agrarlandschaften, vorbei an Anbetungsstätten des sogenannten Theravada-Buddhismus, zu dem sich hier 94% der Bevölkerung bekennen. Immer wieder landen wir in kleineren schlichten Städtchen, kaufen uns zur Erfrischung ein Eis. Die Gegend strotzt eben nicht gerade von sehenswerten Dingen und so können wir es zum Ende hin kaum erwarten, endlich auf die vielversprechende Insel Koh Kut überzusetzen, die als ruhiges, vom Massentourismus noch unberührtes Fleckchen gilt und auf der wir uns im Voraus für eine Woche in eine nette Bungalow-Unterkunft eingebucht haben. 

Unsere Fahrräder kommen mit auf die Insel
Unsere Fahrräder kommen mit auf die Insel

Was soll ich sagen? Die folgenden Tage entpuppen sich als der vielleicht schönste Urlaub, den ich bisher je gehabt habe. Uns begrüßt eine kleine Insel mit gerade einmal 2000 Einwohner*innen, sauberen Stränden mit türkisblauem Wasser und authentischen süßen Fischerdörfchen, umgeben von urwaldähnlicher Flora. Während wir den Vormittag zumeist lesend am Strand verbringen, machen wir nachmittags oft einen Ausflug. Dann schnappen wir uns einen Roller (denn zum Fahrradfahren ist es hier definitiv zu steil!) und fahren zu einem der hübschen Wasserfälle oder wir plätschern mit Kajaks den Fluss entlang, der gleich bei unserer Unterkunft vorbei- und ins Meer fließt. Dazwischen heißt es natürlich immer schön Essen gehen und es sich gut gehen lassen. Habe ich bisher durchaus daran gezweifelt, dass die typischen Hochglanzfotos aus einem Urlaubsmagazin oder im Reisebüro Wirklichkeit sein könnten, so werde ich hier eines Besseren belehrt. Es ist wie im Bilderbuch - alles ist so unbeschwert, so entspannend, so bezaubernd. 

Kein Wunder also, dass wir unseren Aufenthalt hier gerne verlängern würden, doch leider ist für die kommende Zeit bereits alles ausgebucht. Mittlerweile haben wir den 10. Dezember. In einer Woche geht unser Flug nach Deutschland. Also verlassen wir schweren Herzens unsere idyllische Insel und treten noch einmal für 350 Kilometer in die Pedale. Vier Tage später erreichen wir die thailändische Hauptstadt Bangkok, unsere letzte Station. In dem netten Hostel, das wir uns vorab herausgesucht haben, stellt sich heraus, dass wir die einzigen Gäste, ja überhaupt die einzigen Personen vor Ort sind. Nicht einmal die Chefin, die uns lediglich bei unserer Ankunft kurz telefonisch einweist, ist zugegen, sodass wir die letzten vier Nächte allein in einem riesigen Haus verbringen. Eigentlich schade, hatten wir uns doch auf etwas Gesellschaft gefreut, aber sei’s drum. Die Privatsphäre hat was für sich, genauso wie die große Küche und der große Fernseher. Allerdings kann von Faulenzen kaum die Rede sein, da wir allein die ersten beiden Tage gänzlich damit beschäftigt sind, einen passenden Karton und Material zum Verpacken unserer Fahrräder aufzutreiben sowie unser gesamtes Hab und Gut auf den Kopf zu stellen und auszumisten. Nebenbei haben wir tatsächlich noch die Muße, den Blogeintrag über Vietnam und Laos anzufertigen und zu veröffentlichen. Es werden unwirkliche Tage, an denen wir durchs Organisieren irgendwie mehr beschäftigt sind als uns lieb ist. Vielleicht ist diese Ablenkung aber auch gerade von Vorteil, würden wir uns andernfalls wohl in ständigen Gedanken an die Rückkehr doch nur verrückt machen. Ich erinnere mich, wie ich eines Abends zu Stephie sage, dass wir derzeit bestimmt seelisch vollkommen neben uns stünden, ohne es zu merken, und erst viel später rückblickend diese letzten Tage der Reise richtig beurteilen könnten. Natürlich sind wir nervös, wachen schon seit Wochen, seitdem wir den Flug gebucht haben, beinahe täglich mit Kribbeln im Bauch auf. Und doch erschreckt uns in gewisser Weise die Banalität dieser letzten Etappe, diese Nüchternheit. So endet sie also, unsere Zeit in der Ferne. 

Bangen vor der Gepäckaufgabe
Bangen vor der Gepäckaufgabe

Noch einmal schlafen, dann ist es soweit. Am Flughafen müssen wir ein letztes Hindernis bewältigen. Unser Sondergepäck, der Karton, der ursprünglich mal als Verpackung für ein Laufbandgerät gedient hat und jetzt unsere beiden abmontierten Fahrräder beherbergt, darf nicht mehr als 23 Kilogramm wiegen. Wir hieven den Koloss auf eine Testwaage im Terminal und blicken erschrocken auf die Anzeige: 28kg. Mist. Zähneknirschend erreichen wir die Gepäckaufgabe. Als wir die Kiste auf das Förderband stellen, das gleichzeitig als Waage dient, traue ich meinen Augen nicht: auf dem Display steht plötzlich 22,8 Kilogramm. Ich kann mir ein Grinsen kaum verkneifen und drehe mich zu Stephie um. Erst jetzt entdecke ich, dass sie unbemerkt unseren Gepäckwagen ein wenig unter das überstehende Ende des Kartons geschoben und damit das Gewicht leicht manipuliert hat. Verdammt, diese Frau hat’s echt faustdick hinter den Ohren. „Tipp von Hauke“, sagt sie später und lacht. 

Warum sind wir denn nun eigentlich schon zurückgekehrt, werden sich Manche vielleicht fragen. Kurz gesagt, unser Wunsch, heimzukehren, wurde in letzter Zeit zunehmend größer, da uns das Gefühl nicht losließ, mittlerweile von immer neuen Eindrücken derart gesättigt zu sein, dass wir uns gar nicht mehr auf Land und Leute wirklich einlassen können. Es hat sich eine gewisse Lethargie eingeschlichen, gepaart mit mangelnder Abenteuerlust und mehr Wunsch nach Komfort - für uns klare Anzeichen, die ganze Geschichte so langsam zu einem Ende zu bringen. Als sich schließlich herausstellte, dass wir uns die Rückkehr mit einem Frachtschiff finanziell nicht hätten leisten können, so sehr wir diese Art der Fortbewegung auch als runden Abschluss begrüßt hätten, und gleichzeitig der Rückweg über Land mit saisonalen und visa-technischen Herausforderungen verbunden gewesen wäre, von unserer fehlenden Geduld ganz zu schweigen, blieb uns nur noch die Option mit dem Flugzeug.

Wie zieht man Bilanz aus einem derartigen Unterfangen, aus 16 Monaten Reisealltag, dem ständigen Unterwegssein? Mir gefällt der Gedanke, die Reise zu personifizieren - wie die Natur oder die Mutter Erde. Sie hat uns immer geleitet. Mal offensichtlicher, mal auf eher subtile Weise. Sie ist das Bauchgefühl bei der richtigen Zeltplatzsuche, das Lächeln eines Gastgebers, der Geschmack von dem zitrusartigen Sichuanpfeffer oder der Geruch von frisch gebackenem Brot. Sie ist die Geduld beim Trampen, das Brennen von Staub und Sonnencreme in den Augen, der Gegenwind, der Rückenwind, Ärgernis und vollkommene Zufriedenheit. Man tut gut daran, ihr zu lauschen und ihr zu vertrauen. Dann nimmt sie einen an die Hand und zeigt einem eine Welt, in der nicht Skepsis, sondern Zuversicht, nicht Abneigung, sondern Herzlichkeit überwiegen. Eine Welt, in der Fremde einen lachend in die Arme nehmen und sagen: Danke, dass Du uns besuchst. Sie zeigt, dass wir alle gleich sind, und doch so ungleich privilegiert. Und sie hat uns gezeigt, welche Werte wir im Leben für wichtig empfinden und wie wir unser Leben gestalten möchten. Vor der Reise habe ich manchmal gesagt, dass keine Universität der Welt mich lehren kann, was ich da draußen lernen werde, auch wenn ich noch nicht weiß, was genau das sein wird. Nun, heute weiß ich es und dafür bin ich sehr dankbar. 

Losgelöst sein heißt auch, die Entscheidung anzunehmen, die Reise zu beenden und sich somit ein Stück weit vom Losgelösten zu entfernen. Doch so ganz wollen wir diesen uns so natürlich gewordenen Zustand nicht aufgeben. Das nächste Projekt steht bereits vor der Tür und war neben den zuvor genannten Aspekten ein weiterer Beweggrund, warum wir Lust hatten, heimzukehren und sich der Umsetzung eben jener Idee zu widmen. Wir wollen uns ein sogenanntes Tiny House selber bauen und dort einziehen. Doch das ist eine ganz andere Geschichte, die erst noch erzählt werden muss. Vielleicht wird aber auch dieses Abenteuer früher oder später seinen Weg auf diesen Blog finden.