entschleunigung

19.09.2017 - verfasst von Simon

Wir verlassen Ljubljana und gelangen über ein kurzes Stück Kroatien nach Bosnien Herzegowina. Die Grenze überqueren wir zu Fuß, müssen uns jedoch auf Anweisung der Grenzbeamten in die Autoschlange einreihen. Unser erster Stempel im Pass, juhuu! Die Sonne geht schon unter, heute wollen wir nicht mehr allzu weit fahren. Unser letzter Anhalter des Tages und zugleich erste bosnische Bekanntschaft bringt uns bis in die nächst größere Stadt, Banja Luka. Auf halber Strecke hält er prompt an einer Tankstelle, verschwindet in dem kleinen Shop und kehrt kurz darauf mit drei kühlen 0,5l-Bierdosen zurück. Bosnische Gastfreundschaft. Wir stoßen an und er fährt, mit der Bierdose in der Hand, weiter. „Polizia keine Problem“, kommentiert er lachend meinen schmunzelnden Blick. Am nächsten Tag folgt gleich die nächste Einladung. Obwohl eine Fahrerin uns nur wenige Kilometer mitnimmt und es kaum Zeit bleibt, sich richtig kennen zu lernen, lässt sie es sich nicht nehmen, uns in ihrem Hotel Kaffee und Kuchen zu servieren.

 

Ursprünglich hatten wir unsere Bedenken, in dieses Land überhaupt einzureisen, nachdem wir erfuhren, dass es hier immer noch zahlreiche Landminen als Überbleibsel aus dem Bürgerkrieg Anfang der 90er Jahre gibt und nicht alle Gefahrenzonen entsprechend markiert sind. Nach wie vor soll es zu etwa acht Minenunfällen pro Monat kommen, keine guten Aussichten zum Wildcampen also. Schnell erweisen sich unsere anfänglichen Sorgen allerdings als überflüssig, da wir entweder bei Privatleuten zelten dürfen oder die wenigen Wildcampingplätze, die wir aufsuchen, uns sogar von Touristenbüros empfohlen werden. Überhaupt nehmen wir auf unserer Strecke von Nord nach Süd keine einzige Gefahrenzone wahr. Auf Nachfrage erklärt man uns¸ dass es diese nur in den abgelegenen Bergregionen gibt, wo keine gepanzerten Minenfahrzeuge fahren können, um die kleinen flachen Bomben bewusst auszulösen. So erinnern vor allem die vielen noch sichtbaren Einschusslöcher in den Häusern sowie die hohe Präsenz an Friedhöfen an eine düstere, nicht allzu entfernte Vergangenheit, die im starken Kontrast zu der atemberaubenden, oft sehr ursprünglichen Natur und der Herzlichkeit der hiesigen Menschen steht.

 

Auf dem Weg in Richtung Montenegro entschleunigen wir unsere Bosnienreise und bleiben ein paar Tage in Trebinje. Das kleine Städtchen steht im Schatten des nahe gelegenen Dubrovnik. Kaum ein Tourist verirrt sich hierher, obwohl die Atmosphäre es verdienen würde. Über der Stadt thronen zwei orthodoxe Kirchen auf den umliegenden Bergen, im Zentrum decken wir uns auf dem täglich stattfindenden Bauernmarkt mit Obst und Gemüse ein. Hier treffen wir auf Edi und Brici, einem jungen albanischen Künstlerpärchen, sowie Philipp, einem österreichischen Radfahrer, der mit seinem Drahtesel bereits seit fünf Monaten durch Europa tourt. Zusammen stellen wir unsere Zelte auf der Wiese an einem kostenfreien, öffentlichen Schwimmbecken auf (abermals ein heißer Tipp vom Touri-Büro!) und verbringen die gemeinsame Zeit mit Kochen, Ausflügen und ausgiebigen Gesprächen über Gott und die Welt. Es tut gut, mal wieder in Gesellschaft zu sein, die über den üblichen Smalltalk hinausgeht, auch wenn die Tage viel zu schnell vergehen.

 

Stephie und ich sind uns einig, unser Reisetempo weiterhin zu drosseln. Zu oft haben wir auf anderen Blogs gelesen, wie Reisende mit einer ähnlichen Route die Balkanregion mehr oder weniger übersprungen haben, um möglichst schnell in die weite Ferne zu gelangen, diese anfängliche Rastlosigkeit jedoch im Nachhinein bereuten. So ignorieren wir unsere Hummeln im Hintern und nehmen uns für das kleine Land Montenegro, welches gerade einmal 600.000 Einwohner zählt, gute zwei Wochen Zeit.

Der nordwestliche Küstenabschnitt ist mit dem einzigen Fjord Europas außerhalb Skandinaviens zwar landschaftlich sehr reizvoll und auch die vielen kulturträchtigen Städte mit ihren historischen Zentren laden eigentlich zum Verweilen ein, allerdings ist hier der Touristenandrang, auch außerhalb der Hochsaison, recht hoch, was sich unserem Eindruck nach leider merkbar negativ auf die Stimmung der lokalen Bevölkerung auswirkt. Also ab ins Landesinnere. Und schau an: während uns an der Küste ausschließlich Touristen mitgenommen haben, sind es jetzt hauptsächlich Landsleute, deren herzliche Gastfreundschaft wir schnell kennenlernen dürfen. Auf dem Weg zum Kloster Ostrog darf Stephie zwischen zwei Frauen auf der Handbremse eines Kleinwagens Platz nehmen, während ich mich zwischen unsere großen Rucksäcke auf die Rückbank schiebe. Sie fahren uns zu ihrem Onkel, der uns zu Kaffee, Cola und Obst einlädt und obendrein anbietet, bei ihm das Zelt aufzuschlagen. Letzteres lehnen wir dankbar ab, da der Tag noch jung ist und wir die Zeit nutzen wollen, das an einem Berghang in Fels gebaute Kloster zu besichtigen. Dort angekommen fallen sofort die zahlreichen Wolldecken auf dem Vorplatz auf. Man erklärt uns, dass das Kloster Pilgerort für Katholiken, Orthodoxe und Muslime zugleich ist. Alle sind willkommen und können auf dem Gelände, im Haus oder unter freiem Himmel, kostenfrei nächtigen. Angesichts der vielen hundert Decken scheinen das tatsächlich nicht wenige Pilger täglich in Anspruch zu nehmen. Wir überlegen kurz, ob wir uns dieser Erfahrung anschließen, entscheiden uns dann aber dagegen, da Stephie richtigerweise schlussfolgert, dass das Angebot für uns Beide einen rein materiellen und keinen spirituellen Wert hätte und wir diesen Umstand nicht ausnutzen möchten.

Auf der Suche nach einem alternativen Schlafplatz folgt uns plötzlich ein offensichtlich streunender Hund,  den wir bald liebevoll „Silly“ taufen, da er nie den Autos ausweicht und wir Mühe haben, ihn von der Straßenmitte weg zu locken. In einem Dorf unweit des Klosters dürfen wir vor einem Privathaus unser Lager aufschlagen. Die Besitzer überraschen uns mit süßen Feigen und frischen Trauben – die Region ist bekannt für ihren köstlichen Wein. Wir geben Silly etwas Wasser und einen Keks, unseren warmen Reiseintopf mit Gemüse rührt er leider nicht an. Treu schläft er an unserer Zeltwand ein und mich beunruhigt jetzt schon der Gedanke, ihn am nächsten Morgen beim Einsteigen unseres ersten Fahrers zurückzulassen. Aus einer Laune heraus laufen wir nach dem Frühstück zunächst ein paar Kilometer zu Fuß, doch kann uns Silly bald nicht mehr folgen, da er sich vor den anderen Hunden, die ihn sogleich ununterbrochen ankläffen, fürchtet. Diese sind zwar, wie so oft in diesen Gegenden, angekettet und können ihm nichts anhaben, doch das versteht unser süßer, treudoofer Hund nicht. Als sich der Abstand zwischen uns und dem uns mit klagendem, verständnislosem Bellen hinterher jaulende Silly langsam vergrößert, steigen Stephie die Tränen in die Augen. An diesem Tag bleiben wir noch lange in Gedanken an ihn versunken.

 

Wir erreichen die Stadt Zabljak, die als Tor zum Dumitor-Nationalpark gilt. Stephie und ich diskutieren lange, ob wir uns auf Grund der sich nahenden Regenwolken einen Campingplatz leisten sollen. Trotz eines verlockenden Sonderangebots von insgesamt 5,-€ pro Nacht entschließen wir uns schließlich, unserem Budget-Gedanken treu zu bleiben. Unser neu geschmiedeter Plan sieht nämlich vor, so viel Geld wie möglich für die Fähre über das schwarze Meer nach Georgien zu sparen, wo wir uns gut vorstellen können, den Winter zu verbringen. Während wir in der nächsten Stunde auf der Suche nach einem geeigneten Fleckchen klitschnass werden, frage ich mich noch beschämt, ob der Campingplatz nicht doch die bessere Entscheidung gewesen wäre, als wir unverhofft im Garten eines Hotels außerhalb der Stadt zelten dürfen. Wir wärmen uns im gemütlichen Restaurant auf und werden zu Tee und selbst gemachten, noch warmen Schoko-Croissants eingeladen. Geldsparen kann so gut schmecken!

Oft verspüren wir das Bedürfnis, die Gastfreundschaft in irgendeiner Form aufzuwiegen, Geschenke unmittelbar zu erwidern, auch wenn wir wissen, dass die Angebote stets von Herzen kommen und ein Entgegenkommen nicht erwartet wird. Wir sagen uns dann,  dass man die Einladungen vielleicht nicht immer direkt begleichen muss, sondern wir einfach, sobald es uns wieder möglich ist, anderen Menschen einen Gefallen tun, in einer Art universellen Geben und Nehmens. Manchmal bieten wir den Leuten auch an, ihnen als Dankeschön etwas Arbeit abzunehmen, z.B. Geschirr zu waschen oder Obst zu pflücken. Allerdings werden diese Dienste selten angenommen, zu selbstverständlich scheint die wohlwollende Geste zu sein.

 

Als wir am nächsten Tag die Tara-Schlucht erreichen, nach dem Grand Canyon in den USA der zweitgrößte Canyon weltweit, werden wir erneut Zeuge der montenegrinischen Gastfreundschaft, indem uns ein Café-Besitzer einlädt, auf der Weide neben seinem Haus zu kampieren und wir uns über unseren bisher vermutlich schönsten Zeltplatz freuen dürfen. Er und sein herzlicher Vater beschenken uns mit reichlich Bier und Rakija, selbst angebauten Tomaten und Zwiebeln, die wir gleich abends mit unseren Nudeln verzehren. Auch der Rakija, ein südslawisches Nationalgetränk, stammt aus eigener Herstellung. Der angrenzende Schuppen, in dem uns der Senior ein kurzes, aber bemerkenswertes Konzert auf einer traditionellen Flöte darbietet, ist voll von dem hochprozentigen Schnaps und als wir am nächsten Morgen, noch vor dem Frühstück, erneut mit dem alten Herrn anstoßen sollen, lehnen wir, leicht verkatert, dankend ab.

Es bereitet uns immer mehr Freude, bei Privatleuten nach Schlafplätzen zu fragen und auf diese Weise die Menschen näher kennenzulernen. Selten werden wir zurückgewiesen und wenn doch, dann eher aus Kommunikationsschwierigkeiten. Meistens nimmt man uns wie selbstverständlich auf und so reisen wir in sehr gemütlichen Etappen langsam wieder Richtung Küste, schlafen jede Nacht in einem anderen Garten, sitzen eines Abends gar mit der ganzen Familie vor dem Fernseher und schauen türkische Seifenoper mit montenegrinischen Untertitel. 

 

Die letzten Tage in diesem Land verbringen wir am Skutarisee, welcher uns noch einmal die Schönheit dieses Landes vor Augen führt. Hier gefällt es uns sehr gut, doch freuen wir uns auch bereits auf Albanien, auf ein Wiedersehen mit unseren neuen Freunden und den Ausblick auf ein paar Wochen Freiwilligenarbeit in einem Hostel an der Küste.